Religion bei Netizens: Bist Du dagegen oder dagegen?

Darf ein Arzt eine Beschneidung vornehmen, auch wenn diese medizinisch nicht notwendig ist, sondern aus religiösen Gründen erfolgt? Nein sagt das Landgericht Köln, das sei bei Minderjährigen verboten:

Denn im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.

Dieses Urteil wird natürlich auch im Internet diskutiert.Es  stellt die bisher geübte Beschneidungspraxis bei muslimischen und jüdischen Jungen in Frage. Um Rechtsklarheit zu schaffen und die religiös motovierte Beschneidung weiterhin zu erlauben, wird eine Gesetzesänderung diskutiert, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Dieter Graumann, hält beispielsweise ein „Beschneidungs-Gesetz“ für ein „richtiges Signal“.
Nun müssen sich die politischen Parteien positionieren. Es geht um die Güterwägung zwischen Religionsfreiheit, Elternrecht und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes. Und um die Frage, was dient dem Kindeswohl.
(Medizinisch ist die Beschneidung umstritten, allerdings in einigen Ländern wie in den USA aus medizinisch-hygienischen Gründen durchaus üblich. Eine Beschneidung aus medizinischen Gründen wird mit dem Kölner Urteil nicht verboten, es geht um die religiös motivierte Beschneidung.)
Bei der online-affinen Partei der Piraten geschieht die Meinungsfindung natürlich im Internet, so bei der Piratenpartei Hessen, die zwei Meinungsbilder zur Abstimmung stellt:

Meinungsbild 1
Möchtest du, dass die Piratenpartei Hessen folgende Position einnimmt?
Die Piratenpartei Hessen lehnt medizinisch nicht notwendige Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen Kindern ab. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes wiegt schwerer als die Religionsfreiheit der Eltern. Beschneidungen ohne wirksame Einwilligung des Betroffenen sollen daher als Körperverletzung strafbar sein.
Meinungsbild 2
Möchtest du, dass die Piratenpartei Hessen folgende Position einnimmt?
Die Piratenpartei Hessen lehnt sämtliche medizinisch nicht notwendigen chirurgischen Eingriffe an Kindern unter 14 Jahren ab. Solche Eingriffe sollten nur mit Einwilligung der betroffenen Person erfolgen, welche von Kindern nicht wirksam erteilt werden kann. Die Piratenpartei Hessen setzt sich daher dafür ein, dass solche Eingriffe grundsätzlich verboten und als Körperverletzung strafbar sind.
Unter diese Regelung fallen beispielsweise Schönheitsoperationen, aber auch Beschneidungen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes wiegt schwerer als die Entscheidungsfreiheit (und im Falle von rituellen Beschneidungen Religionsfreiheit) der Eltern.
via HE:Meinungsbilder/Beschneidung – Piratenwiki.

Bist Du dagegen oder bist Du dagegen – das sind verkürzt  die Alternativen, die zur Abstimmung stehen. Natürlich hat jeder/jede die Option, sich zu enthalten, oder gegen das Dagegen-Sein zu sein, also mit Nein bei beiden Meinungsbildern zu antworten, und so Ja zur religiösen Beschneidungspraxis zu sagen.
Ohne die Gepflogenheiten der Piraten zu kennen, halte ich es jedoch für bezeichnend, dass kein Meinungsbild zur Abstimmung gestellt wird, dass eine Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen ermöglichen soll.
Hinter den beiden Optionen zur Meinungsbildung steht die Einstellung, dass Religion eine private Angelegenheit ist, auf die man sich als Erwachsener oder Erwachsene (oder Jugendliche bzw. Jugendlicher) einlassen kann, sofern man selber dazu wirksam eine Einwilligung gegen kann. Bis dieses Alter erreicht ist, gehören religiöse Rituale oder eine Initiation aus der Kindererziehung verbannt – zumindest wenn sie körperliche Folgen haben, wie eine Beschneidung.
Man kann dies weiter verallgemeinern: Erziehung soll religiös neutral sein, bis Jugendliche oder Erwachsene  sich selber entscheiden. Dies kann man fordern und auch auf das Christentum übertragen: Erwachsenentaufe statt Kindertaufe hieße dann die Forderung.
Natürlich gibt es christliche Gemeinschaften und Kirchen, die eine Erwachsenentaufe praktizieren, aber aufgrund ihres theologischen Verständnisses, genauso wie die Landeskirchen aus theologischen Gründen die Kindertaufe als Praxis haben.
Die Religionsfreiheit gebietet es bzw. erlaubt es, dass die Religionsgemeinschaften selber bestimmen können, wer wann und wie ihr Mitglied wird und wie Mitgliedschaft definiert wird und welche Rechten und Pflichten ein Mitglied hat.
Juristisch wird zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit unterschieden. Positive Religionsfreiheit heißt, ich habe das Recht, mein Bekenntnis zu leben. Dies gilt natürlich auch für Kinder.
Bei der Diskussion um die Beschneidung wird oft über das Kindeswohl gemutmaßt. Hier vermisse ich persönlich die Stimmen, die sagen:  Ja, es ist gut, wenn ein Kind innerhalb einer Religion aufwächst. Religion dient auch dem Kindeswohl.
Christliche Eltern, die ihre Kinder taufen lassen, versprechen gemeinsam mit den Patinnen und Paten der Täuflinge, für die christliche Erziehung der Kinder Sorge zu tragen. Ihr Ziel ist es, dass die Kinder später durch die Konfirmation Ja zur Taufentscheidung der Eltern sagen – und natürlich haben die Jugendlichen die Möglichkeit, sich auch anders zu entscheiden.
Kindertaufe (und auch die Beschneidung) bedeuten, man lernt eine Religion und Tradition von innen heraus kennen. In diesem Verständnis ist Religion an sich ein positiver Wert.
Dies scheint aber kein gesellschaftlicher Konsens mehr zu sein – zumindest nicht bei Netizens.
Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass die Netzkultur areligiös geprägt ist. Umgekehrt lässt sich bei vielen Christinnen und Christen eine Skepsis gegenüber dem Internet beobachten, die Gefahren des Internet werden beschworen, man betont die Wichtigkeit der Gemeinde vor Ort gegenüber nur „virtuellen“ Begegnungen.
Netzkultur und Christentum schließen sich nicht aus, dies ist meine tiefe Überzeugung. Aber es ist noch viel zu tun, damit es zu einem fruchtbaren Dialog kommt. Die Diskussion um die Beschneidung ist ein Symptom, wieviel Vermittlungsarbeit noch notwendig ist.
(Nachtrag 14.8.2012: Diesen Linktipp verdanke ich @knuuut:  Kommunikationschancen der Kirche mit Digital-Natives)

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7 Antworten zu “Religion bei Netizens: Bist Du dagegen oder dagegen?”

  1. Vielen Dank Ralf Peter, dass Du auch das Thema hier aufgreifst, hab ja auch darüber gebloggt weil ich da nicht sofort eine Abstimmung durchführen kann (http://alexschnapper.wordpress.com/2012/08/02/zwei-virtuelle-meinungsbilder-des-landesverbandes-hessen-zum-thema-beschneidung/).
    Habe durch mehrere Gespräche einen tieferen Einblick in die Sache bekommen, bin aber nun noch mehr verwirrt, weil ich nun über etwas abstimmen kann, wovon ich nicht betroffen bin. Ich bin auch hier auf eine Diskussion gespannt 😉

  2. Die Alternativen \“Nein\“ oder \“Nein\“ sind wirklich schade. Auch aus Sicht der Piraten halte ich das für politisch unklug. Sie manövrieren sich für die breite Masse selbst ins Aus. Wie viele Wähler in Deutschland wollen eine Partei, die zwei Religionen de facto verbieten würde?

  3. Hallo Ralpe,
    ich finde, man sollte ein paar Unterscheidungen treffen:
    1. Soll oder darf ein Kind mit einer religiösen Erziehung aufwachsen? Da es sich nicht selbst entscheiden kann, eindeutig ja. Es kann sich ja später anders entscheiden.
    2. Darf dies mit religiösen Ritualen verbunden sein? Kommt drauf an, wenn sie mit Körperverletzung verbunden sind, eindeutig nein. Die Taufe ist somit nicht mit der Beschneidung zu vergleichen. Würde die Taufe aus einem kompletten untertauchen bestehen, wäre das schon wieder etwas anderes.
    Die Beschneigung ist möglicherweise gar nicht so harmlos, wie viele denken, siehe dazu diesen Artikel:
    http://taz.de/Debatte-um-Beschneidung/!97961/
    Religiöse Rituale dürfen sich verändern und manchmal ist dazu Druck von außen, hier vom Gesetzgeber nötig.
    Und überhaupt: Was sind das für Religionen, die sich solch merkwürdiger Rituale bedienen müssen?
    Ich glaube nicht, dass es grundsätzlich areligiös ist, gegen die Beschneidung zu sein. Und insofern ist die Netzkultur nicht mehr oder weniger religiös, als unsere Kultur an sich.
    In dem Zusammenhang: Unsere Kultur ist äußerst religiös. Nur sind die religiösen Objekte eher fußballvereine oder Popstars. Ich bin in diesem, allerding etwas langen, Artikel darauf eingegangen.
    http://glueckundfreude.wordpress.com/2012/03/25/was-ist-wirklich-uber-gott-religion-spiritualitat-und-esoterik/
    Auszug:
    Andere Vorstellungen und Religionsersatz
    Religiosität schein tatsächlich ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Und daher wird sie verlagert und unsichtbar. Wenn wir genau hinschauen, finden wir überall religiöse Symbole und Verhaltensweisen: in Kultur, Musik, Mode, Kunst und Sport. Fußballfans kriegen Rituale hin, von denen die katholische Kirche nur träumen kann.
    Eine andere Verlagerung stellt die Wellness-Welle dar. Nicht umsonst ist von „Wellness-Tempeln“ die Rede. Eine Sehnsucht nach Tempeln, ein Bedürfnis nach Eins-Sein wird befriedigt. Allerdings nur für kurze Zeit.

  4. Ich merke langsam, dass ich auf die Umfrage in meiner Piratenpartei nicht so einfach reagieren kann… Auch denke ich darüber nach, gar nicht daran mit abzustimmen, eher auf \“Enthaltung\“ zu klicken…

  5. Bei dem Urteil irritiert mich, daß das Recht des Kindes auf Unversehrtheit gegen das Recht der Eltern auf Erziehung gestellt, vom Recht des Kindes auf eine Religion keine Rede ist. Klar ist das Kind nicht religionsmündig, was dazu führt, daß die Eltern (oder andere Erziehungsberechtigte) hier die notwendigen Entscheidungen treffen. Aber nicht as ihren Erziehungsfreiheiten alleine heraus, sondern weil sie die Entscheidungen für das Kind übernehmen. Es wird vom Gericht also vorausgesetzt, daß das Kind kein Interesse an einer Religionszugehörigkeit hat oder haben kann, bzw diese nicht im Kindeswohl stehe. Für einen weltanschaulich neutralen Staat eigentlich ein sehr fragwürdiger Vorgang.
    \“Was sind das für Religionen, die sich solch merkwürdiger Rituale bedienen müssen? \“
    Die \“anderen\“ sind immer komisch, oder nicht? Es ist ne ganz heikle Sache, über die Gepflogenheiten und Traditionen anderer zu urteilen. Die Antwort auf obige Frage wäre also wohl: Es sind zwei Weltreligionen, Judentum und Islam. Diese Antwort führt uns aber nciht weiter, weil sie die in der Frage eingebate Diskriminierung nicht aufnimmt.
    \“Wie viele Wähler in Deutschland wollen eine Partei, die zwei Religionen de facto verbieten würde?\“
    Ich befürchte, nicht wenige. Aber vielleicht bin ich zu pessimistisch. Dafür kann ich mich freuen, wenn es doch nicht so schlimm ist.

  6. Hallo!
    Ich würde das Ganze mal nicht aus religiöser Perspektive aufziehen, sondern aus ganz allgemeiner elterlicher Sicht.
    Ich frage mich: Was kommt als Nächstes?
    Jetzt ist erst mal Ohrloch-Stechen vor Gericht.
    Darf ich demnächst meinen unter 18 Jahre alten Kindern ein Messer geben? Werde ich dann belangt, wenn sie sich in den Finger schneiden?
    Darf ich den Kindern Fußball-Spielen erlauben? Es ist bekanntlich eine der unfallträchtigsten Sportarten, und Kinder können doch in ihrer Begeisterung gar nicht abschätzen, welche Folgen damit verbundene zwar unabsichtliche aber dennoch in Kauf genommene Nebenfolgen diese oder andere Sportarten haben können.
    Dürfen Kinder Fahrrad fahren?
    Was dürfen Eltern demnächst noch alles nicht mehr entscheiden?
    Dürfen Kinder mit auf Beerdigungen? Irgendwer kommt bestimmt auf die Idee, sowas könnte Kinder unnötig traumatisieren.
    Unser Ältester hatte bei einem Sturz einmal einen kleinen Riss im Ohr, und wir mussten kämpfen, bis sich ein Arzt fand, diesen Riss ohne Vollnarkose mit örtlicher Betäubung zu nähen. Wir haben ihn liebevoll im Arm gehalten, der Arzt hat eine lokale Betäubung gespritzt, und dann war der Riss genäht…
    Ich will sagen: wo sind die Maßstäbe?
    Das Leben trägt nun einmal ein gewisser Risiko an Schmerz mit sich, und im täglichen Leben lassen wir uns immer wieder und wieder darauf ein, wenn wir es für vertretbar halten.
    Und dann kommt etwas Salbe darauf, und dann geht es auch wieder.
    Bei der Beschneidung von Jungen geht es doch nun wirklich nicht um einen irgendwie lebensgefährlichen Eingriff…
    Und immer wieder treffen wir als Eltern Entscheidungen, die dem Wohl der Kinder dienen, auch wenn sie mit einem Risiko behaftet sind.
    Sie dürfen in einem verschmutzten Sandkasten spielen, trotz des Infektionsrisikos, weil gleichzeitig das Immunsystem angeregt wird und die Kinder insgesamt weniger anfällig sind und das Risiko von Allergien sinkt.
    Sie dürfen auf Klettergerüste, obwohl sie stürzen können, weil es Spaß macht, weil es ihre Muskulatur stärkt und das Sturzrisiko insgesamt sinkt.
    Sie dürfen auf Klassenfahrten, obwohl jedes Jahr Busse verunglücken.
    Wir können und dürfen Kinder nicht in Watte packen.
    Und umgekehrt: Da wo Kindern in einer schädlichen Weise Gewalt angetan wird, müssen wir aktiv werden. Dazu gehört ganz sicher die Klitorisbeschneidung, dazu gehört aber auch Tempo 30 in Städten außerhalb ausgezeichneter Vorfahrtsstraßen, dazu gehören zynische Sprüche von Lehrern, durch die Schülerinnen und Schüler gemobbt werden, dazu gehört so vieles, das wichtiger wäre als der Hype um die religiöse Beschneidung.

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