OER: Biblisch-theologische Gedanken

Bildung im Alten Orient beruhte vor allem auf mündlicher Überlieferung. Im alten Israel wurden Erzählungen immer wieder wiederholt und über 20 bis 40 Generationen mündlich weitergegeben, bevor sie zum ersten Mal niedergeschrieben wurden. Später entstand das Bedürfnis, an diesen durch den Traditionsprozess gereiften Texten keine Veränderungen mehr zuzulassen. Deswegen wurden die Erzählungen des Alten Testaments weiterhin erzählt, aber parallel auch niedergeschrieben und der Text durch besondere Siglen in Bedeutung und Aussprache geschützt.

Offen waren die mündlichen Erzählungen am Lagerfeuer, zumindest für die eigene Sippe. Frei zugänglich auch, wenn man zur Sippe oder deren Gästen zählte und evtl. einen Marsch oder Kamelritt auf sich nahm. Als Quelle wurden diese Geschichten empfunden und genossen. Auch als „Bildungs“-Quelle, weil Erinnern, Erzählen,  Bildung und Gottesdienst zusammen gehören: „Höre Israel,…“ (Dtn 6,4)

Die ersten Judenchristen vor ca. 2000 Jahren lebten in dieser mündlichen Tradition und erzählten von diesem Rabbiner aus Nazaret. Paulus kam auf seinen weiten Reisen im Mittelmeerraum auf eine andere (neue?) Idee: Um seine neu gegründeten – vornehmlich „heiden“-christlichen – Gemeinden auch während seiner Abwesenheit zu betreuen, sandte er ihnen Briefe. Mitunter antwortete er darin auf Anfragen oder er erläuterte Themen, die ihm anderswo begegnet waren. Einige der Briefe sind im Neuen Testament überliefert.

Bei fernstudium-direkt.de fand ich den Gedanken, Paulus habe damit das Fernstudium erfunden. Das scheint plausibel, weil es vorher nur unhandliche Handschriften von „Lehr“-Werken gab und das Postwesen noch nicht ganz ausgereift war.
Offen und frei waren diese Briefe für die Gemeinden, die Paulus adressiert hatte. Vermutlich wurden sie auch abgeschrieben und weitergegeben; Paulus beanspruchte kein Copyright. Bildend waren diese Briefe sicherlich auch – wer sie heute liest, hat immer noch ordentlich zu knacken.

Allerdings gab es auch ein Problem: Wie ließ sich damals sicher feststellen, ob ein Brief wirklich aus der Feder des Paulus stammte? Nur weil „Paulus“ drunter stand, musste ja nicht Paulus der Autor sein. Solche Pseudepigraphien kursierten anscheinend reichlich in damaliger Zeit und sie funktionierten in (mindestens) zwei Varianten: Entweder nehme man den guten Text eines Anderen und setze seinen Namen darunter oder man schreibe selber einen Text und setze den guten Namen eines Anderen darunter. Bis heute untersuchen die Bibelwissenschaftler die Briefe im Neuen Testament, ob sie nicht doch pseudepigarphisch sind. In der Antike war das Kursieren solcher Schriften ein Grund für die Kanonsbildung des Neuen Testamentes – auch wenn die Pseudepigraphien  noch so gut waren 😉

Historisch fand diese Kanonisierung von AT und NT an einem kulturgeschichtlichen Übergang statt: Schreiben und Lesen waren zwar längst erfunden, aber längst noch nicht Kulturgut der gesamten Bevölkerung. Es brauchte Spezialisten die Schreiben und den Anderen Vorlesen konnten. Und diese Spezialisten nutzten eine (neue) Kulturtechnik auch, um Bildungsinhalte festzuhalten und zu verbreiten. Erst Luther und die Erfindung der beweglichen Buchdrucklettern trugen dazu bei, dass die beiden Kulturtechniken von allem Volk erlernt werden können (Auch wenn uns die Pisa-Tests uns gegenwärtig daran zweifeln lassen.)

Mittelalterliche Bibel-Handschriften waren kostbare Güter und schon deswegen nicht frei und offen zugänglich. Auch Gutenbergs Lutherbibel musste Mensch sich erst mal leisten können. Allerdings „erfanden“ die Reformatoren neben der Schule für alle auch noch die sonntägliche Volksvorlesung in Volkes Sprache. So konnte jeder Mensch den Bibeltext hören und der Auslegung in seiner eigenen Sprache folgen. In diesem Sinne waren Bibel und Auslegung offen und frei. Mit Einführung eines flächendeckenden Schulunterrichts entstand dann der Bedarf nach Unterrichtsmaterialien und die Buchdruckindustrie entdeckte den Wert von Educational Resources, die nicht offen sind. Und von da aus ist es ein langer Weg bis zur UNESCO-Erklärung zu OER.

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