Volker Jung: „Digital Mensch bleiben“ – eine Rezension

Digital Mensch bleiben
Digital Mensch bleiben

Autonomes Fahren, Big Data, Cyborgs, Deep Learning – Volker Jung beherrscht das ABC der Digitalisierung und bleibt dabei nicht nur bei den ersten drei Buchstaben des Alphabets stehen.
Sein Buch „Digital Mensch bleiben“ gibt einen guten Überblick über die aktuellen ethischen und politischen Diskussionen zur Digitalisierung. Flüssig und gut lesbar – Fachbegriffe werden erklärt – erläutert der auf dem Buchrücken als EKD-Medienbischof titulierte hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung, welche Fragen die digitale Transformation für uns als Gesellschaft und als Einzelne bedeutet.
Jung wählt einen biografischen Zugang – er berichtet von seinem ersten Computer mit grün-schwarzem Monitor bis zur WhatsApp-Nutzung in der Familiengruppe – und erzählt, wie sich die Welt in der Spanne von nur einer Generationen entwickelt hat. Auf der letzten Seite des Buches gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass seine Enkeltochter Paula einmal sagen können wird: „Ja, unsere Welt hat sich sehr verändert. Es ist längst nicht mehr die Welt unserer Großeltern, aber es ist eine gute, lebenswerte Welt. Und wir sind Menschen geblieben.“
Volker Jung schreibt das Buch als „Theologe und Pfarrer in einer kirchenleitenden Position“. Natürlich fordere die Digitalisierung auch die Kirche als Institution heraus, aber er will mit diesem Buch „eine theologische Sicht“ geben „auf die Grundfragen menschlichen Lebens“ und Vorschläge machen, was zu tun sei.
Im Silikon Valley gibt es nicht nur eine Start-up-Kultur, die in nur kurzer Zeit Unternehmen wie Microsoft, Google, Apple, Amazon und Facebook entstehen ließ, sondern es herrschen dort auch ein Enthusiasmus und ein Pragmatismus, mit denen  Grundfragen der Menschheit neu angegangen werden. Bleibt der Mensch sterblich? Kann man über DNA-Engineering den Menschen neu erschaffen? Kann gar der Mensch durch die Digitalisierung selber zum Gott werden? Diesem Denken, so wie es Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus vorgetragen hat, widerspricht Jung energisch und betont die Endlichkeit des Menschen. Gegenüber Hararis Dekonstruktion traditioneller Religion führt Jung das biblische Menschenbild an und beruft sich auf Psalm 8, indem Gott dem Menschen eine besondere Würde zuspreche. Dem Fortschrittsglauben der „Datenreligion“ setzt Jung das Verständnis des Menschen von Gott her entgegen und betont die Ambivalenz der technischen Entwicklung. Jung plädiert deshalb dafür, Digitalisierung nicht einfach geschehen lassen, sondern zu gestalten. Dabei sollten sich Christinnen und Christen in die gesellschaftliche Debatte einbringen.
Besonders die Künstliche Intelligenz fordere uns heraus – so Jung – die alte theologische und philosophische Frage „Was ist der Mensch?“ neu zu denken. Das auch in Detailfragen sehr kenntnisreiche Buch bleibt bei den meisten Punkten leider bei einem Sowohl-als-auch stehen. Beispiel Bildung: Schulen sollen keine handyfreie Zone sein, gleichzeitig aber müsse man auch über „digital detox“ nachdenken. Beispiel Ökologie: „Digitalisierung eröffnet einerseits neue Wege, Güter miteinander zu teilen … . Sie führt aber auch dazu, dass ausgesprochen energieintensive Technologie entwickelt wird.“  Beispiel Demokratie: „Ein Staat kann das Netz nutzen, um Demokratie und Freiheit zu gestalten. Ein Staat kann das Netz aber auch nutzen, um Menschen zu überwachen, zu kontrollieren und totalitär zu handeln.“ Beispiel Kirche und Religion: „Manche erwarten, die Kirche möge so etwas wie eine digitalfreie Gegenwelt erhalten. Andere wünschen sehr, dass Kirche digitale Möglichkeiten nutzt. … [es] kann und darf das Digitale das Analoge, die Begegnung von Mensch zu Mensch, nicht ersetzen. Digitale Kommunikation kann unterstützen und ergänzen. Ob und wie digitale Kommunikation religiöse Erfahrung eröffnet, ist für mich eine offene Frage.“ Hier hätte ich von einem Medienbischof eine Antwort, zumindest aber einen Antwortversuch erhofft.
Von seinem Besuch im Silicon Valley berichtet Jung begeistert, wie Menschen dort Neues ausprobieren, auch mit der Möglichkeit des Scheiterns: „Wer scheitert, muss sagen können: ‚Dies oder jenes habe ich gelernt. Das mache ich beim nächsten Mal besser. Ich fange etwas Neues an.‘“ Ob sich das auf Theologietreiben übertragen ließe? Statt nur zu postulieren, dass die Frage „Was ist der Mensch“ neu gedacht werden müsse, Position beziehen. Kann aus theologischer Perspektive Zuwendung zum Menschen durch Maschinen geschehen? Wollen wir Pflegeroboter? (Ja/Nein). Wie müssen wir Arbeit anthropologisch neu denken? Wollen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen? (Ja/Nein). Die Fragen werden im Buch angerissen, aber die Antworten bleibt leider aus. So wie Jung die Mentalität des Silikon Valley preist, hätte ich gehofft, er hätte sich zu – wenn auch vorläufigen – Bewertungen durchgerungen. Auch wenn sie sich im weiteren Diskurs vielleicht nicht durchgesetzt hätten, würden sie trotzdem zu einem Erkenntnisgewinn beitragen haben.
Fazit: Wer einen guten Überblick über die aktuelle ethische Diskussion zur Digitalisierung sucht, wird das Buch mit Gewinn lesen. Was mir aber fehlt, sind eindeutige Positionierungen, die man dann auch theologisch kontrovers diskutieren könnte. Hier wurde eine Chance vertan, den theologischen Diskurs voranzubringen.

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