Kirche nach der Pandemie: Zurück in die Zukunft? Hoffentlich nicht!

Post-Corona-Kirche (Cartoon von Michael Hüter)
Post-Corona-Kirche (© Michael Hüter)

Gut einem Jahr nachdem der erste Patient in Deutschland mit Corona infiziert wurde, ist Deutschland zum zweiten Mal in einem Lockdown. Im Frühjahr 2020 wurden erstmalig Präsenzgottesdienste verboten, in der Weihnachtszeit fanden vielerorts wieder keine Gottesdienste in Kirchen statt, Gemeinden feierten mit digitalen Angeboten das Christfest. Es ist zu früh für eine Bilanz, aber einige Schlüsse lassen sich bereits ziehen. Als Folge der Pandemie gab es einen großen Digitalisierungsschub auch in der Kirche. Einige jubeln, endlich sei Kirche digital bei den Menschen angekommen, während andere die #digitaleKirche als Notlösung sehen und sich nach dem Status quo ante zurücksehnen. Die Corona-Pandemie hat die Kirche jedoch verändert und sie wird nicht dieselbe sein, wenn die Pandemie vorbei ist – so meine Einschätzung. Die Corona-Pandemie stellt nämlich auch Frage, was Kirche ist und welches Selbstverständnis sie hat, und dies wurde durch die Corona-Pandemie verändert.

Kirche ist, wo Menschen sind

Die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin Heidi Campbell hat kurz nach Ostern 2020 das Buch „The Distanced Church: Reflections on Doing Church Online“ veröffentlicht, in dem kirchliche Praxis und theologische Reflexion zu Beginn der Corona-Pandemie dargestellt werden. Ein Kapitel durfte ich dazu beitragen. Die Covergrafik zeigt eine leere Kirche mit der Überschrift: „The Church isn‘t empty. The Church has been deployed.“ Mit Deployment bezeichnet man in der Informatik die Verteilung, Bereitstellung und Aktivierung von Software. Auf die Kirche übertragen heißt dies: Kirche ist nicht mehr im nun leeren Gebäude, sondern dort aktiv, wo Menschen sich im Lockdown befinden. Sie ist bei den Menschen angekommen.

Die Gemeindepfarrerin Maike Neumann 2020 beschreibt die Erfahrungen mit digitalen Gottesdiensten in ihrer Gemeinde während des ersten Lockdowns folgendermaßen: „Junge Familien sagen: ‚So konnten wir über Familiengottesdienst hinaus mal Predigt für uns mitnehmen, während die Kinder um uns herum spielten.‘ Ehemalige Konfirmandeneltern sagen: ‚Wir frühstücken jetzt sonntags als Familie mit Gottesdienst und alle sind zufrieden.‘ Senioren sagen: ‚Das ist gut, ich fühle mich oft zu schwach zum Kommen.‘ Und aus allen Gruppen sagen Leute: ‚Es ist so schön, dass man nicht angezogen sein muss, dass man einen Kaffee dabei in der Hand haben kann, mal kurz einen Satz mit dem Partner wechseln kann, dass man auf dem Sofa lümmelt…. Das geht ja alles in der Kirche so nicht…‘“

Digitalisierung wandelt die Kirchenkultur

Der Gottesdienst am Sonntagmorgen gilt in den meisten Gemeinden als Zentrum des Gemeindelebens. In solchem traditionellen Gemeindeverständnis sind Kirchengebäude unverzichtbar, da sie das Zentrum der meisten Aktivitäten darstellen. Natürlich gab es auch vor der Corona-Krise Gemeinden mit einer starken digitalen Präsenz, die über Social Media neue Mitglieder erreichen wollten, aber für die meisten Gemeinden lag der Schwerpunkt auf Aktivitäten vor Ort. Ohne Vorwarnung mussten Gottesdienste wegen der Corona-Pandemie eingestellt werden. Kirchengesetze, die das gemeindliche Leben regelten, waren nicht mehr anwendbar. Eine Kirche, die sich auf eine physische Präsenz verlassen hatte, musste innerhalb weniger Tage digital werden – oder ihre Aktivitäten einstellen. „Kirche zu Hause“ wurde zum Leitprinzip. Menschen konnten nicht mehr in die Kirche gehen; die Kirche musste also zu ihnen nach Hause kommen. Natürlich konnten nicht alle Pastorinnen und Pastoren und Gemeinden gleich gut mit der neuen Situation umgehen. In vielen – aber nicht in allen Gemeinden – gab es eine neue Kreativität und Dynamik, die Corona-Krise setzte eine neue Vitalität frei. Früher dauerte es Monate, um die Notwendigkeit des Streaming von Gottesdiensten zu erörtern und alle möglichen rechtlichen Auswirkungen zu klären (beispielsweise: benötigt die Kirche eine Rundfunklizenz? Deckt der Arbeitsvertrag des Organisten das Online-Streaming ab?) Jetzt begannen Gemeinden von einem Sonntag zum nächsten, ihre Gottesdienste zu streamen, ohne alles vorab rechtlich geklärt zu haben. Den Menschen nahe zu sein, war wichtiger als die strikte Einhaltung von Vorschriften, die für eine andere Zeit erlassen wurden. Sich auf die Bedürfnisse der Menschen zu konzentrieren, anstatt alle möglichen rechtlichen Probleme zu antizipieren und von Problemen gelähmt zu werden, führte zu einem Kulturwandel: Kirche leben und Kirche sein, statt zu (er)warten, dass die Menschen aus Tradition in die Kirche kommen.

Es geht um Haltung

Natürlich kam es auch zu Reibungen. Es gab kreiskirchliche Datenschutzbeauftragte, die Gemeinden rieten, ihre Facebook-Seiten abzuschalten, weil sie gegen die Datenschutzgesetze verstießen, selbst wenn dies bedeutete, die wesentlichen Kontaktmöglichkeiten zu den Gemeindegliedern zu verlieren.

Digitalisierung ist aber kein Selbstzweck, sondern es geht um die Haltung: Dahin gehen, wo Menschen sind. In diesem Sinne ist #digitaleKirche auch missionarisch – sonst funktioniert sie nicht. Ein YouTube-Kanal nützt nichts, wenn er nicht publik gemacht wird und Menschen zu den digitalen Gottesdiensten eingeladen werden. Diese Haltung lässt sich natürlich auch ins Analoge übertragen: Telefonketten, Verteilen von Predigten auf CDs, Popup-Seelsorge-Angebote, Zeitungsbeilagen oder Sonderausgaben von Gemeindebriefen. Diese nicht-digitalen Ideen folgen auch dem Muster, das im digitalen Raum verwendet wird: Menschen zu erreichen, wo sie sind.

Digital meint auch lokal

Auch wenn die #digitaleKirche nicht vom Gebäude abhängt, ist sie dennoch lokal. Das Fernsehen bietet zwar jeden Sonntag auch Gottesdienste an, deren Qualität einem Videostream aus einer leeren Kirche von einem Mobiltelefon oder Notebook qualitativ weit überlegen ist, aber wichtiger als die Qualität der Sendung ist jedoch, woher der Stream kommt: aus der örtlichen Kirche. Deshalb: Die Kirche ist die aus dem eigenen Ort – oder aus dem Ort, zu dem man eine Beziehung hat – , die Menschen, die den Stream sehen und kommentieren, sie sind die Gemeinde aus dem Ort. Werden die Gemeinden nach der Krise weiter streamen, damit Menschen im Seniorenheim ihren Pastor oder ihre Pastorin am Sonntag digital sehen können, anstatt auf eine Sendung aus dem Fernsehen verwiesen zu werden? Die Befragungsstudie „Rezipiententypologie evangelischer Online-Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise (ReTeOG)“ weist nach, dass über 80 Prozent der rund 5.000 Befragten sich regelmäßige Online-Gottesdienste auch dann wünschen, wenn Präsenz-Veranstaltungen wieder in vollem Umfang möglich sind. Also: Digitale Gottesdienste sollen bleiben, auch wenn die Pandemie überwunden ist.

Nah bei den Menschen sein

Das kirchliche Leben ist anders geworden. Die physische Präsenz ist derzeit wieder sehr begrenzt, aber die Kirchen sind digital gewachsen. Das gilt nicht nur für den Gottesdienst, sondern auch für Konfirmandenarbeit, Seniorenkreise und auch die kirchliche Verwaltung. Noch wichtiger als der Digitalisierungsschub ist jedoch, dass sich die Haltung geändert hat: Die Gemeinden haben gelernt, auf ihre Mitglieder zuzugehen und ihnen nah zu sein.


NB: Die Corona-Pandemie hat auch den „Digitalen Stammtisch“ hervorgebracht. Ich danke Michael Hüter für die Überlassung seiner Cartoons, die er während des Stammtisches am 28. Januar 2021 gezeichnet hat, und die ich zur Illustration dieses Blogposts verwenden durfte.

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