Weihnachten ist bestimmt durch Routinen und Traditionen, aber wir entdecken Weihnachten neu, wenn wir uns unerwartet überraschen lassen. Eine Predigt zu Johannes 3 vom 1. Weihnachtstag.
I. Alle Jahre wieder
„Alle Jahre wieder“ – so lautet ein Weihnachtslied. Wir haben unsere Traditionen und Rituale in der Advents- und Weihnachtszeit. Wenn man schon weiß, was kommen wird, kann man sich darauf freuen. Kleine Kinder, die jeden Tag fragen, wann endlich Weihnachten ist. Weihnachtstraditionen machen Freude – natürlich gibt es auch einige Traditionen, die eher Stress verursachen, doch die lassen wir an dieser Stelle mal bei Seite.
In unser Familie beispielsweise freuen sich die Kinder jedes Jahr bereits Anfang Dezember darauf, den Weihnachtsbaum aussuchen zu dürfen. Der Weihnachtsbaumkauf folgt jedes Jahr einem bestimmten Ritual. Aber auch die Verabschiedungsrituale im Büro vor den Festtagen zu den Weihnachtstagen folgen einem bestimmten Muster. Kolleginnen und Kollegen, auch Geschäftspartnern wünscht man frohe Weihnachten. Nicht zuletzt die vielen Weihnachtsfeiern. Sie folgen einem bestimmten Ablauf.
Rituale geben Sicherheit, man hat Verhaltensmuster verabredet. Das gilt nicht zuletzt für die Weihnachtsgeschichte. Ich kennen sie noch auswendig in Textfassung der Lutherbibel von 1956, da ich mehrmals Vorleser beim Krippenspiel war. Ein Kollege hatte wohl offensichtlich auch eine ähnliche Funktion bei den Krippenspielen gehabt und wir brachten beide die alte Geschichte aus Kindertagen einigermaßen fehlerfrei hervor.
So ist selbst das Weihnachtsgeschehen in unserer Wahrnehmung ein Ablauf altbekannter Art, was nach rund 2000 Jahren auch nichts wirklich Überraschendes ist. Gott wird Mensch in einem Kinde – über viele Jahre haben wir uns zu Weihnachten diese Geschichte angeeignet, sie scheint für uns nichts Unerwartetes mehr zu bergen.
Jedoch: Die Geschichte von Weihnachten soll nicht zur Routine werden, sondern sie enthält Gottes unerwartetes Eingreifen in diese Welt.
In der letzten Woche bin ich auf ein YouTube-Video aus Neuseeland gestoßen: An Unexpected Christmas – Unerwartete Weihnachten. Dieses Video erzählt Weihnachten aus einer unbekannten Perspektive. Durch diese Verfremdung können wir die Weihnachtsgeschichte neu wahrnehmen.
II. Unerwartete Weihnachten
III. Ein unerwarteter Predigttext Johannes 3, 31-36
Auch der vorgeschlagene Predigttext für den heutigen Ersten Weihnachtstag kam für mich etwas unerwartet, auf den ersten Blick ist er nämlich keine Weihnachtsgeschichte.
31 Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen
32 und bezeugt, was er gesehen und gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an.
33 Wer es aber annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.
34 Denn der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist ohne Maß.
35 Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.
36 Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.
Wie passt dieser Text zum Christfest? Er endet mit Gottes Zorn – und das beim höchsten Fest der Liebe.
Wir müssen hier einige Denkbewegungen machen.
Traditionell hören wir die Weihnachtsgeschichte in der Fassung des Lukas, sie ist uns vertraut, die Geburt im Stall, das Kind in der Krippe, die Hirten auf den Feldern und die Engel mit ihrem Lobgesang. So haben wir es gerade auch in der Evangeliumslesung gehört [Lukas 2, 1-20].
Wer noch etwas mehr Theologie will, kann auch den Lobgesang der Maria: [Lukas 1] noch mitnehmen
51 Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Dieser Lobgesang wird auch als biblische Grundlage der Befreiungstheologie gesehen. Die, die unten sind, kommen nun endlich nach oben. Evangelium heißt: Kein Vertrösten auf einen fernen Himmel, sondern es ist auch ein Programm für die Erde. Gott kommt ganz unten an.
Unser Predigttext hat eine ganz andere Bewegung: Von oben her, vom Himmel her, erschließt sich die Welt:
Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen
IV Vom Himmel hoch
So heißt auch das Weihnachtslied [EG 24], das auch diese Predigt rahmt. – und oben im Himmel da bleibt zunächst das, wovon unser Predigttext erzählt.
Es ist nicht ganz klar, wer hier spricht. Wahrscheinlich hat der Verfasser des Johannes-Evangeliums dies auch bewusst offen gelassen.
Der Abschnitt vor unserem Predigttext enthält das Zeugnis Johannes‘ des Täufers über Jesus: (Vers 30):
„Er -Jesus- muss wachsen, ich -Johannes- aber muss abnehmen.“
Ob Johannes im Folgenden nun über Jesus spricht – oder Jesus in der dritten Person über sich selber – jedenfalls enthält der Text ein Zeugnis darüber, wer Jesus ist – und wo er verortet ist:
Jesus kommt von oben – und er ist über allen oder auch über allem, wie man ebenfalls übersetzen kann.
Jesus – erhaben über allem – dieses Jesus-Bild scheint so gar nicht in unsere Zeit zu passen. In unserer Gesellschaft zählt das hier und jetzt, das was man sehen kann, was hier auf der Erde sichtbar und wahrnehmbar ist. Ob es jenseits dieser Realität noch eine andere gibt, scheint heute mehr als fraglich. Transzendenz steht nicht hoch im Kurs. Mit dem Verweis auf ein Jenseits geht man heute besser in keine Diskussion. Die moderne Physik und Biologie können Gefühle und Emotionen in bestimmten Gehirnregionen verorten. Dies gilt auch für religiöse Empfindungen. Gottesglaube scheint als Schaltung neuronaler Netze erklärbar. Der Gehirnscan erklärt naturwissenschaftlich, was Gläubige für die Transzendenz halten. Ein Verweis auf eine Realität hinter der wahrnehmbaren Realität – nennen wir es Transzendenz oder einfach-schlicht Himmel – passt nicht in unsere Zeit. Das gilt für uns heute, diese Erfahrung machte aber auch der Verfasser des Johannes-Evangeliums.
Aber: dieses „Zeugnis nimmt niemand an.“ – so heißt es auch im Predigttext. Dies ist auch immer wieder Erfahrung von Christinnen und Christen in allen Jahrhunderten gewesen: Menschen verstehen nicht, wer Jesus Christus ist. Verstünden sie es, nähmen sie ihn an, wäre unsere Welt eine andere, wir würden dann in Gottes Gegenwart leben, die Erde wäre uns zum Himmel geworden.
Unsere Erfahrung aber ist eben die, dass „die Welt“ eben das Zeugnis über Jesus nicht annimmt.
Allerdings: so absolut kann die Aussage dann doch nicht sein, denn der Evangelist fährt fort:
33 Wer es aber annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist.
Niemand nimmt das Zeugnis an – dennoch gibt es welche, die es annehmen. Das ist kein Widerspruch, sondern es kommt auf den Blickwinkel an. Die Perspektive wechselt: Wir können die Welt als nicht-erlöste Welt mit all ihren Defiziten wahrnehmen. Voller Menschen, die Gott den Rücken kehren. Aber: gleichzeitig gibt es sie doch, Menschen, die erkennen, wer Gott ist, die „an den Sohn glauben“, die das Leben haben.
Wer ist Gott? Gott ist über allen und über allem. Deshalb erkennen ihn die Menschen hier unten nicht. Deshalb hat Gott ihnen seinen Sohn gesandt – wie es auch im Predigttext heißt. Ziel dieser Sendung ist, dass die Menschen an Gott und seinen Gesandten, den Messias, glauben.
36 Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Das Johannes-Evangelium erzählt die Geschichte der Sendung Jesu quasi aus der himmlischen Perspektive, von oben herab. Vom Himmel aus mit Blick auf die Erde.
Eine Perspektive, die wir nicht so oft einnehmen und die uns etwas fremder ist.
V. Ein Evangelium – zwei Perspektiven
Die klassische Weihnachtsgeschichte – so wie wir sie von Lukas her kennen – erzählt dieselbe Geschichte, aber von der Perspektive von unten, von der Erde her.
Gott wird Mensch – das Johannes-Evangelium beschreibt, wo Jesus herkommt, dass er Gott ist, der über allem und allen ist. Gott mit Macht und Herrlichkeit. Und dass er zu den Menschen gesandt ist. Lukas erzählt im Evangelium, wie Gott als Mensch auf dieser Erde ist: ein machtloses Kind -so kommt er zu uns.
Wir brauchen beide Perspektiven, um zu verstehen, was Weihnachten ist, das Lukas- und das Johannes-Evangelium beschreiben beide die Menschwerdung Gottes, aber aus unterschiedlicher Perspektive. Gottes Macht im Himmel und seine Ohnmacht als Kind in der Krippe gehören zusammen.
Diese Dynamik findet sich in Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch“ – ebenso im YouTube-Video, von dem ich eingangs erzählte – oder auch in diesen Versen von Hanns-Dieter Hüsch:
Kleiner Herr
der du gekommen bist
im Elend
wir bauen auf dich
und deine Zukunft
und schenken dir
unser ganzes Vertrauen
Wir warten auf dich
bis du groß und
allmächtig bist
alle Welt übersiehst
und überall die Liebe
als Statthalter einsetzt.
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Benutzte Literatur: Kerstin Schiffner, „Vom Himmel in den Zeugenstand“, Göttinger Predigtmeditationen 67, 48-54; dort auch das Gedicht von Hanns Dieter Hüsch, das auszugsweise hier zitiert wurde.
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Eingangslied Gemeinde: 24,1-5 Vom Himmel hoch
Glaubensbekenntnis Nizänum 854
Lied vor Predigt: 24, 6-10
Lied nach der Predigt: 24, 11-15
Lied nach Abendmahl: 35, 1-3+15 Nun singet und seid froh
Schlusslied: 44,1-3 O du fröhliche