Diskret sterben

Jüdischer Friedhof in Krakau
Jüdischer Friedhof in Krakau

Die Grenze zwischen öffentlich und privat verschiebt sich immer weiter, teilweise verwischt sie. An wen richtet sich ein Facebook-Post? Was in soziale Netze gelangt, bleibt nicht mehr privat – auch wenn man in den Einstellungen die Sichtbarkeit eines Beitrages auf bestimmte Freundesgruppen beschränkt. Soziale Netze verändern daher auch den Umgang mit Tod und Sterben. Natürlich hat auch das Fernsehen Grenzen verschoben. Dass sich das gesellschaftlich akzeptierte Verhalten verändert hat, macht Ulrich Greiner auch in der Literatur fest:

In der alten bürgerlichen Gesellschaft galt das ungeschriebene Gesetz, Nachbarn oder gar Fremde mit der eigenen Befindlichkeit zu verschonen. Dagegen verstößt Christian Buddenbrook (in Thomas Manns Roman), der die Tischgesellschaft gerne mit seinen gesundheitlichen Beschwerden belästigt.
Sein Bruder Thomas sagt über ihn: „Ihm fehlt etwas, was man das Gleichgewicht, das persönliche Gleichgewicht nennen kann. Einerseits ist er nicht imstande, taktlosen Naivitäten anderer Leute gegenüber die Fassung zu bewahren. Er ist dem nicht gewachsen, er versteht nicht, es zu vertuschen, er verliert ganz und gar die Contenance. Aber andererseits kann er auch in der Weise die Contenance verlieren, dass er selbst in das unangenehmste Ausplaudern gerät und sein Intimstes nach außen kehrt.“

Nun hat auch Schwedens wohl bekanntester Autor Henning Mankell seine Krebserkrankung öffentlich gemacht und angekündigt, regelmäßig darüber zu schreiben. So liest man auf seiner Website

My anxiety is very profound, although by and large, I can keep it under control.
At a very early stage I decided to try to write about this.
I have decided to write just as it is.
But I will do it from the perspective of life, not death.
Mankells erster Beitrag ist kurz, man spürt seine Unsicherheit, wenn er schreibt:
I am now undergoing the last examinations before it will be decided upon which treatments I will receive.

Wir sind dicht dran, wir spüren Mankells Unsicherheit, ich frage mich, wie wird er weiter schreiben? Gute Nachrichten, dass er den Krebs in Griff bekommt, werden leicht von der Hand gehen, was aber, wenn die Krebserkrankung sich als unheilbar erweist? Wird er das dann auch schreiben? Wie wird er sich verabschieden, wenn er nicht mehr schreiben können wird? Werden wir sein Sterben online mitverfolgen können. Werde ich so zum Voyer?
Warum sonst will ich über Mankells Krankheit lesen und er darüber schreiben? Zum Voyerismus der Leserinnen und Leser korrespondiert auch ein Narzissmus des Bloggers oder der Bloggerin, die über ihre Krankheit schreiben.
Nick Baines – dem ich auch den Titel für diesen Blogpost verdanke – sieht den Grund darin, dass wir in unserer Gesellschaft keine Rituale mehr haben, die uns beim Umgang mit unserer Sterblichkeit helfen:

Perhaps the reason people want to read this stuff – and, therefore, sufferers want to write it – is simply that most of us do not find the mystery of mortality easy to live with. Coming to terms with suffering and dying – outside of the control we crave over our lives and resistant to our technological hubris – is not always easily handled in a culture that sees death as an enemy as opposed to a necessary part of life. How do we process this ‚coming to terms with dying‘ in a culture that has lost its communal rituals and lacks a vocabulary for dealing with mortality? Perhaps we need stories and confessions and narratives that offer some incarnated processing of what internally we cannot shape.

Der Verlust gesellschaftlicher Trauerrituale hat natürlich nichts mit der Entschehung und Verbreitung des Internets zu tun, aber das Internet ermöglicht eine Nähe und Distanzlosigkeit, die es vorher nicht gab. Wenn ich online lese, wie Mankell gegen den Krebs kämpft, ist der Ausgang noch offen. Ich kann mit ihm zittern und hoffen. Ich bin quasi live dabei.
Das Schriftsteller und Schriftstellerinnen über Krankheit und Sterben schreiben, ist nichts Neues. Persönlich erinnere ich mich an Maxi Wanders Tagebücher und Briefe, , die ich in den 80er Jahren las. Sie waren herausgegeben von ihrem Mann Fred Wander. Allein die Tatsache, dass Maxi Wanders Mann die Tagebücher herausgibt, verrät vor dem Lesen der ersten Seite bereits den Tod der Autorin. Ich lese Maxi Wanders Tagebücher daher aus der Perspektive ihres Todes, bei Henning Mankell ist das Ende noch offen.
Natürlich sind Maxi Wanders Tagebuchaufzeichnungen persönlich — aber sie sind diskreter, weil der Ausgang des Geschehens für den Leser feststeht. Reflexion, nicht Voyerismus oder Narzissmuss bestimmen mein Lesen.
Es geht bei unserem Umgang mit dem Tode nicht zuletzt auch um Menschenwürde – so auch Nick Baines in seinem Blogpost:

Not everything should be open and public; some things in human lives and relationships should be kept private and intimate. To lose the distinction means losing something of human integrity. The mere fact that millions of people want to gorge on the self-disclosures (or snooped disclosures) of other people does not in and of itself justify it being done.


Maxi Wander, Tagebücher und Briefe, hg v. Fred Wander (Buchverlag Der Morgen, Berlin 1979 – in Westdeutschland erschienen unter dem Titel: Leben wär‘ eine prima Alternative. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe, hrsg. von Fred Wander. Luchterhand, Darmstadt/Neuwied 1980. ISBN 3-423-11877-6.

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