Die gläserne Familie? — Gedanken zum Datenschutz

„Papa, Papa, ich habe ein ‚musical.ly‘ [jetzt: TikTok] gemacht, kann ich das online stellen?,“ so fragt die zehnjährige Tochter ihren Vater, als er nach Hause kommt. Neben ihr steht die Freundin, mit der sie gemeinsam das Musik-Video aufgenommen hat. Eine nicht untypische Momentaufnahme einer Familie, die eine musikbegeisterte Tochter im Teenager-Alter hat, und die deutlich macht, welche Komplexität das Thema Umgang mit personenbezogenen Daten in Familien haben kann.

Zunächst: Was ist „musical.ly”? Im Online-Marketing halten es viele für das „heiße Ding“ nach Snapchat, für US-Teenager ist es die App, die sie am spannendsten finden und die Erwachsene gar nicht kennen: musical.ly hat weltweit bereits Millionen von Teenies als Nutzerinnen gewonnen und wird auch in Deutschland immer beliebter. Als „musical“ bezeichnen „muser“, wie sich die regelmäßigen Nutzer von musical.ly nennen, bis zu 15 Sekunden lange Videos, in denen sie entweder playback zu Popsongs performen oder lustige Zitate nachsprechen.

Kinder sind begeistert und verbringen viel Zeit mit Apps, die keinen Bezugspunkt zur Erfahungs- und Lebenswelt Erwachsener hat, die jedoch ohne tiefe Kenntnis der jeweiligen App Einschätzungen vornehmen müssen, um ihren Kindern Handlungsräume zu ermöglichen.

Rechtliche und technische Komplexität

Auch wer für die eigene Familie Regeln für den Umgang mit personenbezogenen Daten festgelegt hat, kommt dabei schnell an Grenzen, da Familien nicht autark leben. Im obigen Beispiel nahm die Tochter das Musik-Video gemeinsam mit einer Freundin mit dem Handy von deren Mutter auf. Statt einfach auf Hochladen zu klicken, fragte die Tochter ihre Eltern, ob sie das Video ins Internet hochladen könne. Eine verantwortliche Entscheidung ist nicht einfach. Zunächst das Rechtliche: Das Hochladen des Videos geschieht über das Smartphone der Mutter der Freundin, diese hat den AGB des App-Anbieters zugestimmt. Gibt es deutsche AGB für diese App oder gilt US-Recht? Klar ist, dass die Tochter als zehnjährige noch nicht über das Recht am eigenen Bild entscheiden kann und daher die Eltern dies für sie stellvertretend tun. Der Vater weiß nicht, wie die App technisch funktioniert. Werden die Videos lokal auf dem Smartphone gespeichert? Werden Sie in die Cloud hochgeladen? Bedeutet eine Online-Veröffentlichung, dass sie nur für einen eingeschränkten Personenkreis zugänglich sind? Oder sind sie für alle Nutzerinnen und Nutzer des Webs sichtbar? Werden die „musical.lys“ unter einem Profil mit Klarnamen oder anonym veröffentlicht? Fragen, auf die die Mutter der Freundin auch keine Antwort hat und die nicht auf die Schnelle recherchierbar sind. Und die Kinder drängen: Können wir das „musical.ly“ online stellen?

Ein Schritt zurück: In der Familie haben alle einen PC bzw. ein Notebook, mit dem Verlassen der Grundschule haben die Kinder ein Smartphone bekommen, zunächst mit zeitlich begrenztem Internetzugang über WLAN. Es ist verabredet, dass die Kinder keine Apps alleine herunterladen. Für bezahlpflichtige Apps wurde eine Prepaid-Karte gekauft, um unnötige Datenspuren zu verhindern. Trotz Drängens der Kinder haben die Eltern nicht das neueste Handy bestellt, sondern ein älteres Modell den Kindern gegeben, das nicht alle Apps und Spiele lädt. Die Eltern haben mit den Kindern die Handy-Nutzung eingeübt. Sie haben die Handy-Nutzungsordnung der Schule mit ihnen diskutiert und zu Hause Regeln festgelegt, wie und wann in der Familie das Handy genutzt werden kann. Also: die Mediennutzung innerhalb der Familie geschieht bewusst, die Eltern fördern die Medienkompetenz ihrer Kinder. Daher auch die Frage der Tochter, ob sie das musical.ly online stellen könne.

Aber: die Antwort auf die Frage der Tochter ist nicht einfach. Auch wenn eine Familie für sich definiert, welche Apps sie nutzen möchte und welche sie vermeiden will, um unnötige Datenspuren zu verhindern, kommen aus der erweiterten Familie und dem Freundeskreis Herausforderungen auf einen zu, zu denen man sich verhalten muss. Wobei jedoch in den meisten Fällen eine fundierte Entscheidung aufgrund der Komplexität schwierig ist und man Entscheidungen treffen muss, obwohl nicht alle Fakten als Entscheidungsgrundlage verfügbar sind. Zwischen den Extremen einer vollständigen Verweigerung moderner Kommunikationsmittel und vernetzter Haushaltsgeräte einerseits und andererseits einer enthusiastischen Nutzung unter Außerachtlassung jeglicher Datenschutzaspekte muss jede Familie den für sich richtigen Umgang finden, dabei ist sie jedoch weitestgehend auf sich alleine gestellt.

Da sich Technik und AGB äußerst schnell ändern –- so führte WhatsApp beispielsweise Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein (datenschutzrechtlich positiv zu bewerten), erlaubte aber auch den plattformübergreifenden Nutzerdatenaustausch (datenschutzrechtlich negativ), müssen Entscheidungen, einen Online-Dienst zu nutzen oder zu meiden, fortlaufend revidiert werden. Wer im Einzelfall fundierte Entscheidungen treffen will, muss Medienprofi sein. Außerdem: es gibt Netzwerke, in denen Jugendliche in ihrer Peer Group alleine sein wollen, und Eltern bewusst nicht dabei haben wollen. Risiken und Gefahren (und natürlich auch Chancen) abzuklären, wird dann für Eltern schwierig, wenn sie selber keine Erfahrungswerte haben.

Guidelines und Medienkompetenz

Für den Familienalltag ist dies nur schwerlich leistbar. Wenn es aber das Bestreben evangelischer Ethik ist, dass man in einer Familie selbstbestimmt urteilen kann, auf welche Online-Dienste man sich einlässt, wäre es hilfreich, wenn es ein Koordinatensystem gäbe, das gemäß allgemeinen eigenen Wertvorstellungen hilft, in konkreten Einzelfällen die Entscheidung zur Nutzung oder Vermeidung bestimmter Online-Dienste zu treffen. Es wäre ein medienethisch wichtiger Beitrag der Kirchen für Familien, solche Guidelines zu entwickeln.

Bei solchen Guidelines wird es sicherlich eine Spannbreite geben, innerhalb derer sich die individuelle Entscheidung vollzieht, es geht um ein Abwiegen von Komfort oder möglichst breiter Mediennutzung einerseits und andererseits mehr Datensouveränität und Selbstbestimmung, was mit den eigenen Daten geschieht. Hier geht es um Ermessensspielräume, die jeder Einzelne für sich bzw. seine Familie bestimmen muss. Gerade gegenüber Post-Privacy-Vertreter, die zwar totale Informationsfreiheit nicht als Wunschvorstellung propagieren, sondern eher als technisch nicht verhinderbar einschätzen, bleibt aber aufgrund des christliches Menschenbildes festzuhalten, dass es auch in der Informationsgesellschaft Schutzräume geben muss, in denen private Information nicht öffentlich werden darf. Was in der biblischen Schöpfungsgeschichte (z.B. Gen. 3, 21) in Bezug auf körperliche Nacktheit gilt, dass Gott Adam und Eva Kleider aus Fellen machte, lässt sich auch auf den Schutz gegen die digitale Nacktheit übertragen, nämlich dass nicht alle Datenspuren einer Person offengelegt werden dürfen. Es gibt eine Intimsphäre, die es zu schützen gilt. Die Familie ist sicherlich ein solcher digitaler Schutzraum. Dies gibt sich aus dem biblischen Menschenbild.

Aufgabe evangelischer Bildungsarbeit ist es daher, Medienkompetenz zu fördern, damit in Familien im Umgang mit Daten verantwortlich Entscheidungen getroffen werden können. Da die Thematik – wie bereits aufgezeigt – jedoch äußerst komplex ist – wäre ein Grundschutz für alle sicherlich sinnvoll, d.h., dass die Datenweitergabe von Apps generell restriktiv ist, außer die Nutzerinnen und Nutzer stimmen explizit zu.
Das Datenschutzrecht ist entstanden aus dem Gegenüber des einzelnen Bürgers bzw. der einzelnen Bürgerin zum Staat. Heute laufen die Fronten jedoch anders. Es sind mittlerweile nicht-staatliche Akteure, vor allem Unternehmen, die die größten Sammler von Daten sind; soziale Netze sammeln die Online-Biographien ihrer Mitglieder. Zunehmend fallen jedoch auch Daten an, die nicht einer einzelnen Person zuzuordnen sind, sondern die im vernetzten Haushalt entstehen. Entscheidungen zum Umgang mit Daten betreffen daher eine gesamte Familie.

Smart Home und Privatsphäre

Die Digitalisierung durchdringt das Familienleben. Das Internet der Dinge ermöglicht eine Vernetzung im Haus oder der Wohnung, die auch eine große Menge an Daten produziert, die viel über die Bewohnerinnen und Bewohner verraten. Was für einige eine Vision ist, mag für andere ein Horrortrip sein. Es gibt Konzept- oder Machbarkeitsstudien, auch wenn viele dieser neuen Produkte noch nicht serientauglich sind. Von der Überwachung des oder der Neugeborenen im Babyzimmers via Webcam bis zum Pflegeroboter für die Großelterngeneration, die Digitalisierung verändert unseren Familienalltag.
Einige Geräte sind bereits praxistauglich und im Alltag angekommen. Ein Küchengerätehersteller bietet es an, im Internet ausgesuchte Rezepte auf den heimischen Küchenhelfer zu portieren, die dann Schritt für Schritt nachgekocht werden. Dabei fallen Daten an, die an den Hersteller der Maschine übertragen werden. Muss der Gerätehersteller wissen, wer beispielsweise glutenfrei oder vegan kocht? Oder zu welchen Uhrzeiten warme Mahlzeiten in einer Familie bereitet werden? Oder wie die Portionsgröße ist? Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Es gibt Regeln, wer welche Post öffnet und liest, Tagebücher, auch die der Kinder sind Tabu. Wie sieht das bei PC und Tablet-Nutzung aus? Nutzen alle Familienmitglieder dasselbe Benutzerkonto und haben damit – gewollt oder ungewollt – Zugriff auf Daten anderer Familienmitglieder? Oder haben alle ihr eigenes Benutzerkonto und jeder hat nur Zugriff auf die jeweils eigenen Daten? Wieweit müssen und dürfen Eltern die Internetnutzung ihrer Kinder begleiten und Einsicht haben? Wie verändert sich die Begleitung mit zunehmendem Alter der Kinder? Welche Messenger-Dienste nutzt man zur Kommunikation untereinander?

Allgemeingültige Regeln gibt es (noch?) nicht, innerhalb der Familien muss gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Die Digitalisierung eröffnet viele Chancen. Messenger-Dienste erlauben Kommunikation mit Kindern, die im Schüleraustausch im Ausland sind, und Großeltern können so per Video mit ihren Enkelkindern in einer anderen Stadt leichter Kontakt halten. Andererseits hinterlässt man Datenspuren, bereits durch Metadaten der Kommunikation wird Privates und Intimes für Dritte sichtbar und nachvollziehbar.

Lernort Familie

Auch die Familie ist ein Lernort für Datenschutz. Einfache Antworten gibt es nicht, wichtig ist aber, Bewusstsein für den Umgang mit Daten schon bei Kindern zu schaffen. Egal, wie die Antwort des Vaters im Detail ausfällt, wichtig ist, dass die Tochter fragt, ob sie das „musical.ly” online stellen kann. Wenn das Gespräch, was öffentlich werden darf und was besser privat bleibt, zwischen Eltern und Kindern geführt wird, ist bereits ein großer Schritt getan, egal wie die Antwort im Detail ausfällt.

Die gläserne Familie? Das „Internet der Dinge“ bzw. das „Smart Home“ mit über die Could vernetzten Haushaltsgeräten produzieren Unmengen an Daten. Man kann heute schon ahnen, was in Zukunft an Informationen durch Big-Data-Analyse über das Familienleben für Dritte einsehbar werden kann. Je mehr Komfort eine Familie sich wünscht, desto mehr Daten muss sie freigeben. Oder wer bestimmte Daten nicht weitergeben möchte, wird auf einige Dienstleistungen oder vernetzte Hausgeräte verzichten müssen. Jede Familie muss für sich entscheiden, wie transparent sie sein möchte.


Dieser Aufsatz stammt aus der Broschüre „Digitalisierung und Familie“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie NRW.

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