Eine persönliche Zwischenbilanz: Digital ist nun normal

Wir sind in Deutschland von der Kontaktsperre betroffen, als ich diesen Aufsatz „Digital is the New Normal – Churches in Germany During the Corona Pandemic“ für das von Heidi Campbell herausgegebene Buch „The Distanced Church: Reflections on Doing Church Online“ geschrieben habe. Der Kürze halber waren einige Verallgemeinerungen erforderlich, einige detaillierte Daten sind noch nicht verfügbar. Die Schlussfolgerungen sind daher vorläufig und persönlich. Die Corona-Pandemie hat die Kirche jedoch verändert und die Kirche wird nicht dieselbe sein, wenn die Pandemie vorbei ist – so meine Einschätzung.

Für die meisten Menschen wird die Mitgliedschaft in der Kirche durch die Taufe als Kind erworben, Kirchenmitgliedschaft besteht zu einer Gemeinde gemäß dem Wohnsitz. Der Gottesdienst am Sonntagmorgen gilt als Zentrum des Gemeindelebens. In solchem traditionellen Gemeindeverständnis sind Kirchengebäude unverzichtbar, da sie das Zentrum der meisten Aktivitäten darstellen. Natürlich gibt es Gemeinden mit einer starken digitalen Präsenz, die über Soial Media neue Mitglieder erreichen wollen, aber für die meisten Gemeinden liegt der Schwerpunkt auf Aktivitäten vor Ort.

Obwohl dies eine Verallgemeinerung ist, gibt es zumeist die Haltung, dass Social-Media-Aktivitäten nur zu virtuellen Begegnungen führen, während die wirklichen Begegnungen sich face-to-face ereignen. Dies führt auch dazu, dass viele Gemeinden digital nicht gut aufgestellt sind.

Ohne Vorwarnung wurden die Gottesdienste wegen der Corona-Pandemie ohne vorherige Ankündigung eingestellt. Kirchengesetze, die das gemeindliche Leben regelten, waren nicht mehr anwendbar. Eine Kirche, die sich auf eine physische Präsenz verlassen hatte, musste innerhalb weniger Tage digital werden.

Kirche von zu Hause

Die „Kirche zu Hause“ wurde zum Leitprinzip. Menschen konnten nicht mehr in die Kirche gehen; die Kirche musste also zu ihnen nach Hause gebracht werden. Natürlich konnten nicht alle Pastorinnen und Pastoren und Gemeinden gleich gut mit der neuen Situation umgehen. Es war jedoch wirklich erstaunlich, eine neue Kreativität und Dynamik zu sehen. Die Corona-Krise setzte eine neue Vitalität frei. Früher dauerte es Monate, um die Notwendigkeit des Streaming von Gottesdiensten zu erörtern und alle möglichen rechtlichen Auswirkungen zu klären (Beispielsweise: benötigt die Kirche eine Rundfunklizenz? Deckt der Arbeitsvertrag des Organisten das Online-Streaming ab? Um nur zwei der vielen rechtlichen Fragen zu nennen.) Jetzt begannen Gemeinden von einem Sonntag zum nächsten, ihre Gottesdienste zu streamen, ohne alles vorab rechtlich geklärt zu haben. Den Menschen nahe zu sein, war wichtiger als die strikte Einhaltung von Vorschriften, die für eine andere Zeit erlassen wurden. Sich auf die Bedürfnisse der Menschen zu konzentrieren, anstatt alle möglichen rechtlichen Probleme zu antizipieren und von Problemen gelähmt zu werden, führte zu einem Kulturwandel: Kirche leben und Kirche sein, anstatt nach Vorschriften kirchliches Leben zu organisieren.

Ein wichtiges Beispiel: Das Abendmahl, das traditionell am Gründonnerstag und Karfreitag gefeiert wird. Kann man online Abendmahlsgemeinschaft haben? Oder zu Hause Abendmahl zu feiern, ohne dass ordinierte Geistliche diesen Gottesdienst leiten? Diese theologischen Fragen lagen lange ohne Antwort auf dem Tisch, aber jetzt mussten innerhalb weniger Tage Entscheidungen getroffen werden. Kann man überhaupt unter diesen Umständen Abendmahl feiern? Oder geht man neue Wege und vertraut darauf, dass Gott auch unter diesen widrigen Umständen einer Pandemie bei einer Abendmahlsfeier gegenwärtig sein wird? So luden evangelische Gemeinden zum Abendmahl ein – zu Hause oder digital.

Natürlich ließen sich nicht alle auf diese neue Situation ein. Es gab kreiskirchliche kirchliche Datenschutzbeauftragte, die rieten, die Facebook-Seiten abzuschalten, weil sie gegen die Datenschutzgesetze verstießen, selbst wenn dies bedeutete, die Kontaktmöglichkeiten zu verlieren.

Auch Menschen analog erreichen

Selbst wenn die meisten kirchlichen Aktivitäten jetzt digital sind, wurden Menschen, die nicht online sind, nicht vergessen. Briefe wurden an Mitglieder geschickt, Pastorinnen und Pastoren saßen am Telefon und telefonierten oder boten Andachten über das Telefon an. Predigten wurden ausgedruckt und in den noch geöffneten Lebensmittelgeschäften des Dorfes verteilt. Diese nicht-digitalen Ideen folgen auch dem Muster, das im digitalen Raum verwendet wird: Menschen zu erreichen, wo sie sind.

Gottesdienste neu denken

Eine Krise bringt oft einen entscheidenden Moment. Medien berichteten zunächst, dass Gottesdienste abgesagt werden, weil Gottesdienste in Kirchengebäuden nicht mehr abgehalten werden konnten. Jetzt berichten sie, wie Menschen digital Gottesdienst feiern können. Gottesdienst ist nicht mehr an ein Gebäude gebunden, sondern an Menschen, die zu Gebet und Verkündung zusammenkommen.

Werden diese neuen Erfahrungen auch nach der Krise angewendet werden, auch wenn aufgrund der finanziellen Folgen der Corona-Pandemie weniger Mittel zur Verfügung stehen werden?

Wenn man die Dinge anders macht, sieht man auch, worauf es ankommt. Viele Gemeinden bemühen sich, ottesdienste aus ihrer Kirche aus zu streamen. Der Pastor oder die Pastorin predigt zu einem Online-Publikum aus einer sonst leeren Kirche. Das Fernsehen bietet natürlich jeden Sonntag auch Gottesdienste an, deren Qualität einem Videostream aus einer leeren Kirche von einem Mobiltelefon oder Notebook qualitativ weit überlegen ist. Wichtiger als die Qualität der Sendung ist jedoch, woher der Stream kommt: aus der örtlichen Kirche. Deshalb: Die Kirche ist die aus dem eigenen Ort, die Menschern, die den Stream sehen und kommentieren, sind die Gemeinde aus dem Ort. Werden die Gemeinden nach der Krise weiter streamen, damit Menschen im Seniorenheim ihren Pastor oder ihre Pastorin am Sonntag digital sehen können, anstatt auf eine Sendung aus dem Fernsehen verwiesen zu werden?

Obwohl noch keine abschließenden Statistiken vorliegen, scheint es, dass die Abrufzahlen von Gottesdienststreams häufig höher sind als die Besucherzahlen von Gottesdiensten vor der Kontaktsperre. Ein Grund für diese digitalen Gttesdienstbesuche könnte sein, dass andere Freizeitaktivitäten eingeschränkt sind. Trotzdem scheinen aber Menschen nun die Streams zu sehen, die vorher nicht zur Kirche gegangen sind. Eine weitere Beobachtung: Sehr oft folgt mehr als eine Person dem Onlinegottesdienst auf einem mobilen Endgerät oder am Bildschirm. Die Streaming-Gemeinde wird so zu einem Netzwerk verbundener Einzelpersonen und Familien. Ein Argument für Live-Streaming vor der Corona-Krise war die Gewinnung neuer Menschen – werden die Kirchen nach dem Ende der Pandemie weiter streamen?

Partizipation und Interaktion

In den meisten Gottesdiensten ist die Teilnahme der Gemeinde geregelt und begrenzt. Gemeindemitglieder singen, sie geben die entsprechenden Antworten in der Liturgie, sie sprechen das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Wenn es um digitale Gottesdienste geht, scheinen die Menschen viel aktiver und offener zu sein. Die Internetkommunikation senkt die Hemmschwelle, um sich persönlich zu äußern. Persönliche Fürbitten, die online veröffentlicht und im Gottesdienst verlesen werden sind normal geworden. Digitale Gottesdienste sind partizipativ. Werden die online erprobten Formen der Interaktion nach der Corona-Krise Eingang in den Gottesdienst finden, wenn sie wieder in den Kirchen stattfinden?

Das kirchliche Leben ist anders geworden. Die physische Präsenz ist derzeit sehr begrenzt, aber die Kirchen sind digital gewachsen. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich die Haltung geändert hat: Die Kirchen haben gelernt, in Krisenzeiten auf ihre Mitglieder zuzugehen.

Webinar

Mene Erfahrung konnte uch auch unter dem Titel “Achieving engagement and participation online: churches in Germany” auf einem Webinar des ÖRK teilen.

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Eine Antwort zu “Eine persönliche Zwischenbilanz: Digital ist nun normal”

  1. Ich fürchte, nach dieser Krise wird die Hoffnung, die hier beschrieben ist, durch die Beharrungskräfte ersetzt, und die Situation UND die Diskussionen, naja, vielleicht nicht auf Null, aber auf 0,5, zurückfallen lassen. Es wird heißen: \“Ja, damals, während Corona, da waren das Notstands-Handlungen. Jetzt ist wieder normal, d.h. wie vorher\“.
    \“Wenn es um digitale Gottesdienste geht, scheinen die Menschen viel aktiver und offener zu sein. \“ Womöglich feiern andere Menschen digital, als diejenigen, die \“in die Kirche\“ gehen. Die vielen Angebote (aus den Landesstudios) von ARD/ZDF, die GD ausgestrahlt haben, müssen mit berücksichtigt werden. In meinem Bekanntenkreis (45-85Jahre), haben die Menschen Fernsehen geguckt (so, wie sie es machen, wenn sie krank sind …) Am Computer war niemand digital dabei.

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