Digital Mensch sein: Anthropologische und ethische Fragen neu gestellt

Die Digitalisierung stellt bekannte Denkmuster in Frage, wir nehmen den Umbruch wahr, ohne schon genau absehen zu können, wohin uns die Digitalisierung bringt. Dies gilt auch für die Religion und die Anthropologie. Was ist der Mensch? Wie müssen und können wir Menschen der digitalen Gesellschaft Gott denken? Vordenker im Silikon Valley sehen den Mensch nicht mehr als Geschöpf Gottes und Gott nicht mehr als Schöpfer, sondern der Mensch wird im Transhumanismus in der Verbindung mit Künstlicher Intelligenz selbst zu Gott.

Die Technodizee tritt an die Stelle der Theodizee. Was möglich ist, soll gemacht werden, so wächst die Menschheit über sich hinaus. Gott ist noch nicht, er muss noch werden, fasste der an der Universität Basel lehrende Soziologe Oliver Nachtwey in einem religionssoziologischem Vortrag „Der Geist des digitalen Kapitalismus – Solution und Techno-Religion“ heute auf der re:publica 19 die transhumanistische Weltsicht zusammen.

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Vortrag von Oliver Nachtwey beginnt bei 1 Stunde 25 Minuten

Direktlink zum Vortragsvideo: https://youtu.be/vib6hdpore4?t=5096

Wenn im Silicon Valley Vordenker des Transhumanismus von der Unsterblichkeit des Menschen träumen, was bedeutet dies für christliche Anthropologie, die von der Geschöpflichkeit des Menschen ausgeht? Welche Antworten kann christliche Theologie geben?

Vorletzte Woche habe ich unter dem Titel „Digital Mensch sein: Anthropologische und ethische Fragen neu gestellt“ bei einer Tagung des Deutschen Evangelischen Frauenbundes und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) einen Vortrag gehalten, der für mich im Rückblick nun wie eine theologische Replik auf den religionssoziologischen Vortrag von Oliver Nachtwey wirkt.

Die digitale Revolution und Theologie

So wie die industrielle Revolution die Agrargesellschaft abgelöst hat, bringt die Digitale Revolution den Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Wasser- und Dampfkraft charakterisierten in der (ersten) industriellen Revolution die Produktion, die Massenproduktion in der (zweiten) industriellen Revolution wurde durch die Nutzung der Elektrizität möglich, die Informatisierung der Gesellschaft macht den Menschen zu einem Datenwesen, der durch künstlicher Intelligenz diese Daten analysiert und verarbeitet.

Die industrielle Revolution haben Kirche und Theologie verschlafen, lange haben sie gebraucht, um theologische Antworten auf Marxismus und Kapitalismus zu finden, und gesellschaftlich haben sie die Arbeiterschaft in den neu entstandenen Großstädten verloren. Heute stehen wir vor einer ähnlichen Situation. Wie sollen Digital Natives am Gemeindeleben teilnehmen, wenn die Kirche strukturell (zumindest in Deutschland) am Parochialprinzip festhält und keine Online-Partizipation am Gemeindeleben anbietet? Aber auch theologisch bzw. medienethisch sind Schlüsselthemen der Digitalisierung nicht reflektiert. Was bedeutet Digitalisierung theologisch? Welche Positionen lassen sich zu Netzneutralität, Open Data, Open Knowledge, Free Software, Big Data Analytics und Privacy aus der Theologie heraus entwickeln, um nur einige Fragenkomplexe zu nennen.

Die durch die Digitalisierung entstehenden Fragen kommen in verschiedenen Kontexten immer wieder hoch. Seitens der akademischen Theologie sehe ich in letzter Zeit zwar mehr Publikationen zum Themenfeld Digitalisierung, aber keine umfassende Einordung. Daher greife ich gerne in Bezug auf Digitalisierung gerne auf den Begriff der „Datensouveränität“ zurück. Allerdings der Rekurs auf die in diesem Begriff impliziten Werte wie Selbstbestimmung und Autonomie im Umgang mit Daten sind nicht spezifisch christlich oder theologisch – oder gibt es keine spezifischen theologischen Umgang in Bezug auf Digitalisierung? Zu wissen, es gibt keine spezifisch theologische Antwort (etwa weil diese Fragen innerhalb der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre beim weltlichen Regiment verortet wären) wäre bereits ein Erkenntnisgewinn, dazu muss aber der Diskurs geführt sein.

Ich erlebe aber, wir stehen noch am Anfang. Ich bin Theologe und Informatiker von meiner Profession her, nehme aber keinen Dialog zwischen beiden Disziplinen wahr. Das Wirken des Heiligen Geistes mit Schwarmintelligenz zu identifizieren, findet sich zwar bereits in einigen Pfingstpredigten (und ließe sich auch gut mit Schleiermacher theologisch unterfüttern, wenn man das kollektive Bewusstsein mit Manifestationen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühles identifiziert), aber mir geht es um grundlegende anthropologische Fragen: Was ist der Mensch und wie verhält sich das christliche Menschenbild zu Erkenntnissen aus der Informatik.

Turing-Test führt zur anthropologische Fragestellung: Was ist der Mensch?

Der britische Mathematiker Alan Turing (1912 – 1954) war einer der Pioniere der Informatik, die Turing-Maschine, der Turing-Test und die Church-Turing-These sind nach ihm benannt. Der Turing-Test ist eine Möglichkeit, Menschen von Maschinen zu unterscheiden, es gibt heute Maschinen, die den Turing-Test bestehen, d.h. sie sind in ihren Interaktionen nicht mehr von realen Menschen zu unterscheiden.

Im Zuge des Turing-Tests führt ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- und Hörkontakt mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern eine Unterhaltung. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide versuchen, den Fragesteller davon zu überzeugen, dass sie denkende Menschen sind. Wenn der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat die Maschine den Turing-Test bestanden, und es wird der Maschine ein dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen unterstellt. Diese ursprüngliche Version des Turing-Tests ist auf chatbasierten Dialog ausgerichtet, es gibt erweiterte Tests, die multimediale Inhalte statt Chats zugrunde legen. Auch wenn man beim konkreten Einzelfall streiten kann, ob der Turing-Test von einer Maschine erfüllt wurde wie im Falle des Chatbots Eugene, so zeigen neueste Forschungsergebnisse der Künstlichen Intelligenz, dass mithilfe neuronaler Netze Maschinen eine Intelligenz in bestimmten Bereichen haben, die menschlicher Intelligenz weit überlegen ist.

Diese Entwicklungen in der Informatik stellen auch die anthropologische Fragen neu: Was ist der Mensch?

Gottesebenbildlichkeit des Menschen neu denken

Theologisch zeichnet den Menschen seine Gottesebenbildlichkeit aus, er ist Gottes Gegenüber und kann mit Gott kommunizieren. In Psalm 85 wird der Mensch in Beziehung gesetzt zu Gott und zu den anderen Lebewesen der Schöpfung gesetzt, er ist wenig geringer als Gott und selbst Herrscher über die Schöpfung. Mathematische Begriffe wie diskret oder kontinuierlich finden sich natürlich nicht im Weltbild der Menschen im Altertum. Bei der Beschreibung der Natur und Umwelt stellt sich die Frage, ob diese Aufzählungen Abstufungen oder fließende Übergänge beschreiben, ganz zu schweigen davon, wie und wo durch Künstliche Intelligenz gesteuerte Maschinen in der Reihung Himmel, Mond, Sterne, Fische, Vögel, wilde Tiere, Schafe, Rinder, Mensch, Gott einzuordnen sind. Gegenüber der Schöpfung zeichnet sich der Mensch aus, dass er „Herr“ über sie ist. Die Herrschaft des Menschen war in der Vergangenheit immer auch örtlich begrenzt. Im  20. Jahrhundert erweiterte sich die Verfügungsgewalt soweit, dass der Mensch die Zerstörung der Erde in der Hand hatte. Aber es waren immer noch Menschen, die die Verfügungsgewalt ausübten. Im 21. Jahrhundert werden vernetzte Systeme und Algorithmen Entscheidungen treffen, die unrevidierbare Entscheidungen für die gesamte Erde und Menschen treffen, und die menschlicher Kontrolle entzogen sind. Das dominium terrae – den Auftrag die Erde zu bebauen und zu beherrschen aus dem ersten Schöpfungsbericht in Genesis 1 – werden Maschinen innehaben, die von Menschen gebaut wurden, aber von diesen nicht mehr verstanden werden. Während im Altertum Menschen Werkzeuge nutzen, um sich die Erde urbar zu machen, sind die Werkzeuge nun intelligenter geworden als die, die sie erschaffen haben. Sind durch künstliche Intelligenz gesteuerte Maschinen noch auf Seiten der Schöpfung einzuordnen, über die der Mensch Herrschaft ausübt, oder müssen diese Maschinen zwischen Mensch und Gott platziert werden, da ihre „Herrlichkeit“, die der Menschen übersteigt? Oder gehören sie gar nicht in diese Reihung, wohin dann aber? Was, wenn Maschinen nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sind? Was heißt das für Chatbots, bei denen der menschliche Gesprächspartner nicht weiß und nicht wahrnehmen kann, ob er mit einem Bot oder einem Menschen redet?

In Dialogsituation werden auf Websites und Apps Chatbots eingesetzt, den interagierenden Nutzerinnen und Nutzern ist oft nicht bekannt oder bewusst, mit wem sie im Gespräch sind, es gibt auch hybride Systeme, in denen für die Gesprächspartnerinnen und –partner ohne deren Wissen zwischen Bots und Menschen gewechselt wird. Im Marketing und in der Kundenberatung werden Bots eingesetzt, weil sie billiger sind, als reale Menschen. Marketing-Fachleute berichten, dass es auf Kundenseite in der Wahrnehmung irrelevant ist, ob ein Bot oder ein Mensch den Dialog führt, wenn das Gespräch zum gewünschten Erfolg führt. Mit anderen Worten, den meisten Menschen ist es egal, mit wem sie ein Gespräch führen, solange das Gesprächsergebnis stimmt. Dies sind Erfahrungen aus dem Marketing- und Service-Bereich, wo Kommunikation bereits medial vermittelt –  via Telefon / Voice oder Chat und Email –erfolgt, das Gegenüber also nicht in seiner Leiblichkeit präsent ist.

Fortschritte in VR bzw. AR (Virtual / Augmented Reality, virtuelle / erweiterte Realität) werden die Wahrnehmung entsprechend erweitern, dass der Unterschied  in der Empfindung, ob ein Gegenüber körperlich oder medial vermittelt präsent ist, immer geringer wird. Wenn die Wahrnehmung des Gegenübers aber weniger von dessen tatsächlicher körperlicher Gegenwart abhängt, wird die leibliche Präsenz nicht das entscheidende Kriterium sein, sondern das Wissen um die leibliche Präsenz des Gegenübers, mit anderen Worten, mein Gegenüber wird mir deshalb zum Menschen, weil ich weiß, dass er ein Menschen und kein Bot ist.

Anthropologisch bedeutet dies, dass Menschsein nicht an bestimmten – wahrnehmbaren – Eigenschaften festzumachen ist, sondern als solches gegeben ist. In der Sprache des Psalmisten also:  der Mensch wird zum Menschen dadurch, dass Gott seiner gedenkt, er also in Gottes Gedanken (wenn man diese anthropomorphe Sprache bemühen kann) ein Mensch ist.

Für den Vergleich von Menschen und Maschinen folgt daraus, dass es nicht eine etwaige Unter- oder Überlegenheit entscheidend ist, sondern ihnen ihr Mensch- oder Maschinesein inhärent ist; man könnte in philosophischer Sprache sagen, es gibt einen ontologischen Unterschied zwischen Mensch und Maschine, auch wenn unter Umständen ihre Akzidenzien gleich sein. Dieser ontologische Unterschied ist allerdings theologisch definiert, er ergibt sich aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch ist Mensch, weil ihm die Gottesebenbildlichkeit innewohnt. Und eben diese Gottesebenbildlichkeit macht ihn zum Menschen. Dies ist natürlich ein Zirkelschluss – Gott macht den Menschen zum Menschen. Was Menschsein ausmacht, ist dem Menschen entzogen.

Menschsein nicht durch Bewusstsein definierbar

Zwischen Mensch und intelligentem Bot gibt es in deren Verhalten notwendigerweise keinen Unterschied, künstliche Intelligenz ermöglicht die Übernahme menschlicher Verhaltensmuster. Forschungen zu künstlichem Bewusstsein sind relativ neu, es gibt verschiedene Forschungsansätze, denen auch unterschiedliche philosophische Annahmen zugrunde liegen. Selbst Bewusstsein scheint einigen Ansätzen zufolge notwendigerweise nicht nur dem Menschen vorbehalten. Forschungen zu Künstlichem Bewusstsein (auch: Maschinenbewusstsein oder synthetisches Bewusstsein; engl. artificial consciousness bzw. machine consciousness oder synthetic consciousness) verstehen Bewusstsein als Folge von Interaktionen verschiedener Teile des Gehirns. Solche neuronalen Korrelate des Bewusstseins können von entsprechend konstruierten Maschinen emuliert werden. Bewusstseins so definiert, ist dann nicht auf den Menschen beschränkt, sondern auch in einer Maschine vorfindbar, Bewusstsein eignet sich daher nicht zur Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine.

Sterblichkeit zeichnet den Menschen aus

Während die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ein theologischer Unterschied zur Maschine ist, liegt ein weiterer anthologischer Unterschied in der Sterblichkeit des Menschen. Der Mensch altert. Wenn ihn nicht ein unzeitiger Tod aus dem Leben reißt, stirbt er im Alter. Die Sterblichkeit des Menschen ist Folge der Vertreibung aus dem Paradies und so konstitutiv für den Menschen. So könnte gerade die Sterblichkeit des Menschen – und damit seine Begrenztheit und Endlichkeit – der anthropologische Unterschied zur Maschine sein – dies ist eine Abgrenzung zum Transhumanismus.

Weitere theologische Herausforderungen:
Quantified Self und Big Data

Größere Herausforderungen gibt es für uns durch die immensen anfallenden Datenmengen und dazugehörigen Metadaten. Im Hinblick auf die persönlichen Daten eines einzelnen Menschen können wir vom quantifizierbaren Ich, dem „Quantified Self”,  sprechen, der Mensch wird zur Summe seiner Daten, und ist so messbar und bewertbar – im Hinblick auf die Korrelation der Daten und Metadaten aus verschiedensten Quellen von Big Data. Ob Big Data oder Quantified Self, beides stellt uns theologisch vor Herausforderungen.

Quantified Self

Menschen können sich vergleichen – mit anderen oder gegen selbstgesteckte Werte und Ziele. Was ist ein Mensch wert?

„Ich bin besser, denn ich habe mehr als Du,” Dies das Fazit, als meine Tochter (als Jugendliche noch Facebook nutzen) die Anzahl ihrer und meiner Freunde auf Facebook verglich. Wer mehr Freunde hat, ist besser und mehr wert. Für Erwachsene reicht der Blick auf die Facebook-Friends nicht mehr, es gibt ja auch Twitter, Blogs und noch weitere Netzwerke, die man bei einer Bewertung einbeziehen muss. Wie kann man da berechnen, wer vorne liegt und besser ist?

Klout” (diese Dienst wurde 2018 eingestellt) machte das messbar. Jeder wird auf einer Skala von 1 bis 100 bewertet. Je größer der Klout-Wert, desto einflussreicher ist man, desto höher ist die Online-Reputation. Man mag die Methode der Bemessung der Klout kritisieren, aber es gibt nun einen standardisierten Wert für den eigenen Einfluss, den man auf andere hat, er zeigt die eigene  Leistungsfähigkeit und den Wert an.

Die Werbewirtschaft ist natürlich an Menschen mit hoher Klout (oder muss man sagen hohem Klout?) interessiert. Frank Krings weist in seinem Blog auf eine Aktion des Magazins t3n hin, dass sich nur an Menschen mit einer Klout von 50+ richtet – also Menschen anspricht, die in ihrem Umfeld Trendsetter sind.

Zurzeit könnte ich daran teilnehmen, ich habe gerade eine Klout von 54. Läge ich unter 50, müsste ich mir mein Standing wieder erarbeiten, mehr twittern und facebooken, damit ich bei Klout höher komme, meinen Einfluss zurückgewinne.

Lässt sich der Wert eines Menschen messen? Der Theologe in mir sagt sofort: nein. Luthers Rechtfertigungslehre lässt sich kurzfassen: Ich bin so von Gott geliebt wie ich bin. Ich muss nichts leisten, um vor Gott bestehen zu können.

„Self knowledge through numbers”, so steht es als Unterzeile im Blog Quantified Self. In einem Blogpost fragt Shelly Jang: „Can You See That I Was Falling In Love?” – und analysiert fünf Jahre ihrer Chatprotokolle um herauszufinden, ob bzw. dass sie mit ihrem Mann bzw. Freund anders kommuniziert als mit Kolleginnen und Kollegen und Bekannten.

Social Media und die überall anfallenden quantifizierbaren Vergleichsdaten führen schnell zur Introspektion und Selbstinszenierung, der Mensch blickt auf sich anstatt auf sein Gegenüber – Gott bzw. den Nächsten – und wird so zum homo incurvatus in se ipsum. Die Rechtfertigungslehre wird so auf einmal sehr aktuell, wenn wir über das Quantified Self sprechen.

Big Data als Sintfut

Christian Rudder beschreibt in seinem Buch Dataclysm Big Data als Sintflut. Der Titel Dataclysm spielt mit dem griechischem Wort Kataklysmus = Flut, das in der Septuaginta für die Sintflut gebraucht wird. Einerseits haftet der Sintflut etwas Zerstörerisches an, andererseits ist die Sintflut auch der Übergang von der Urgeschichte zur Geschichte. Leitet also Big Data eine neue Zeit ein? Der Untertitel „Dataclysm: who we are when we think no one’s looking” deutet an, dass es keine Trennung mehr von Online- und Offline-Leben gibt, sondern die im Netz anfallenden Daten auch unser Leben in der Kohlenstoffwelt bestimmen. Da nicht nur ich Daten über mich generiere, sondern auch andere Daten bewusst oder unbewusst über mich produzieren, entgeht niemand der Daten-Sintflut.

Selbst eine Verweigerungshaltung hilft nicht weiter, da durch Dritte auch Daten über Online-Verweigerern anfallen – wenn natürlich in geringerem Maße. Die Sintflut wurde eingedämmt, der Regen hörte auf, das Wasser floss ab, es kam der Regenbogen als Bundeszeichen. Welchen Bund, welche Regeln gibt es zum Sammeln von Daten? Und zum Korrelieren? Oder muss absolute Datensparsamkeit die Maxime sein? Hier stehen wir am Anfang der theologischen Diskussion.

Big Data Analytics wird immer besser. Je größer sowohl die Datensammlung als auch die Rechenleistung zu schnellen Auswertung der Daten ist, je besser die Algorithmen sind, desto genauer kann auch menschliches Verhalten vorhergesagt werden. Die Auslieferung eines Produktes kann schon vor dessen Bestellung beginnen, weil Big Data Analytics vorhersagen kann, aus welchem Wohngebiet Menschen eine entsprechende Bestellung aufgegeben werden wird. Die Präzision solcher Vorhersagen wird sich weiter verbessern, es stellt sich die Frage, inwieweit menschliches Verhalten durch Berechnung vorhersagbar wird.

Big Data und Freiheit

Subjektiv – d.h. in der eigenen Wahrnehmung – mag jemand sich frei für etwas entschieden haben, aufgrund von Datenauswertung war die Entscheidung jedoch vorhersagbar. Was bedeutet dies für den freien Willen? Aufgrund von Big Data Analytics werden auch Konsequenzen komplexen menschlichen Handelns vorhersehbar. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse ist der Ausdruck eines freien Willens. Ist der Mensch frei in seiner Entscheidung oder ist diese vorhersagbar? Dabei gibt es unterschiedliche Perspektiven, die subjektive Wahrnehmung einer freien Entscheidung versus die objektive Gebundenheit an Fakten, die eine bestimmte Entscheidung vorwegnehmen? Kann der Mensch selber noch zwischen Gut und Böse entscheiden? Oder wird seine Entscheidungsfreiheit immer weiter eingeengt? Vor dem Hintergrund von Big Data Analytics kann die Erzählung vom Baum der Erkenntnis und der Vertreibung aus dem Paradies eine weitere Deutung erhalten. Im Bestreben des Menschen liegt es, sein zu wollen wie Gott, daher sein Streben nach Wissen und nach der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Das Wissen um Gut und Böse und die Möglichkeit, sich dazwischen zu entscheiden liegt aber eigentlich bei Gott: „Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“

Sündenfall und Schutz vor digitaler Nacktheit

Der Mensch isst von der Frucht des Baumes der Erkenntnis und bemerkt dann seine Nacktheit. Gegenüber anderen gibt es keinen Schutzraum mehr, der Mensch ist transparent geworden. Damit nicht mehr alles über den Menschen offenbar ist, bedeckt Gott seine Nacktheit mit Fellen, die für den Menschen Kleider sind. Die Konsequenzen des menschlichen Handelns, so wie Gott sein zu wollen, wird durch das Tragen von Kleidung rückgängig gemacht. Es gibt einen Schutzraum, der den Blicken Dritter entzogen sein soll. Wer also über Datensammeln und Algorithmen den Menschen wieder quasi digital auszieht, versucht wieder so zu sein wie Gott – dies wäre ein erneuter Sündenfall. Vor Erfindung von Computern war das Datensammeln über Menschen sehr beschränkt, die jetzigen technologischen Entwicklungen lassen aber fragen, wieweit Grenzen verschoben werden. Werden Computer alles über einen Menschen wissen, was man über ihn wissen kann? Ist menschliches Verhalten dann determiniert und der Computer allwissend? Wäre das so, wäre der Computer allwissend und wird zu Gott. Aufgrund der Church-Turing-These lässt sich mit Turingmaschinen alles berechnen, was überhaupt berechenbar ist. Die Turingberechenbarkeit setzt allerdings einen unendlich langen Bandspeicher voraus. Auch wenn der Speicher moderner Computer immer größer wird, ist er und bleibt er endlich. Auch wenn er weiterhin größer wird, kann zwar immer mehr Verhalten vorausgesagt werden, aber nicht alles. Die Endlichkeit der Computer bedingt so die menschliche Freiheit.

Auch wenn Computer immer leistungsfähiger werden, erinnert die Geschichte vom Sündenfall und dem Baum der Erkenntnis daran, dass es nach christlichem Verständnis eine Begrenzung des Datensammelns geben sollte, auch wenn sich die diese Grenze technisch immer weiter verschiebt.

Der Wunsch, alles zu wissen und alles zu berechnen, würde einerseits den Menschen zu Gott machen, wenn er alles wüsste; gleichzeitig führte dies zum gläsernen Menschen, dessen Verhalten vorhersagbar wäre. Auch wenn sich die technischen Grenzen weiter verschieben, bleibt einerseits trotz allem eine Begrenzung dessen, was man berechnen kann aufgrund der Endlichkeit von Computern, andererseits mahnt die Geschichte vom Sündenfall, dass es zum Menschsein dazugehört, dass es einen Intimbereich gibt, der der Datensammlung entzogen sein muss, damit der Mensch Mensch bleibt.

Die Digitalisierung stellt die Frage nach dem Menschsein neu – die Antworten müssen wir noch finden. Was ist uns Menschsein wert?


Hinweis: Dieser Blogpost übernimmt Gedanken und Passagen aus dem Aufsatz Alan Turing und theologische Anthropologie und dem Post Von Open Access und Privacy sowie von christlicher Unterweisung und göttlicher Vorhersehung oder: digitale Souveränität theologisch. In beiden Quellen finden sich auch weiterführende Links zu den Zitaten.

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